Der Heiland der Welt

[474] Tod und Auferstehung Jesu.


Ein Gesang.


Als des Erblaßten Leib in die stille Höhle gesenkt war,

Mehr getödtet als er, irrt' der Verlassenen Schaar;

Wie zerknickte Blumen, wie Halme, zerschmettert vom Hagel,

Wilde zerschmettert, war niedergesunken ihr Muth.

Siehe, da hörte ihr Ohr unfern dem heiligen Grabe

Stimmen; es dünkte sie lieblicher Hirten Gesang;

Genien sangen, der Menschheit Wächter und ihre Begleiter.

In der Unsterblichen Chor hob sich der Trauernden Herz,

In der Trauernden Herz gossen sie himmlischen Trost.


Die Genien.


Unser Führer erblich! seinen Geliebteren

Freund und Vater, ein Hirt jedem verirrten Lamm

(Seht, die schmachtende Heerde

Drunten schmachten im Todesthal!),

Führt die irrende Schaar, leitet zu Quellen sie,

Quellen himmlischen Tranks, süßer Erwartungen;

Denn der Bote des Lebens

Ist nicht todt! o, er schlummert nur.

Wiederkommen wird er seinen Verlassenen,

Wiederkommen ein Stern aus der umwölkten Nacht;

Bald erscheinet die schönste

Morgenröthe den Träumenden.

Und sie werden ihn sehn (wecket den zartesten

Ton, den ihnen ins Herz, scheidend, der Edle goß!)

Wiederkommen. Ich will Euch

Zu mir nehmen, Ihr sollt mich sehn

Und Euch freuen, wie sich ihres gebornen Sohns

Eine Mutter erfreut, wie den gestorbenen[474]

Sohn der liebende Vater

Lebend neu in die Arme schließt.

Und sie werden der Welt werden, was er ihr war,

Jedes irrenden Lamms Hüter, in tiefer Nacht

Segnend leuchtende Sterne,

Er, der strahlende Morgenstern.


Labend goß, wie erfrischender Thau auf schmachtende Blumen,

Sich der Himmlischen Lied in der Erstorbenen Herz.

Und sie wagten es, nachzusingen dem Liede der Wächter;

Zweifelnd lösete sich ihre beklommene Brust.


Die Jünger.


Wiederkommen wird er, den sie verschmäheten,

Wiederkommen auch uns, den wir verleugnend flohn;

War die Heerde des Hirten,

War die Aue des Sternes werth?

Frieden gab er der Welt; aber sie kannt' ihn nicht!

Wahrheit; und sie verschloß lästernd die Augen ihr.

Welchen Sklaven die Kette

Freut, genießet die Freiheit nie.


Und der Gesang der Genien tönt' in volleren Chören;

Von der heiligen Gruft tönte das Echo darein.


Die Genien.


So hoch der Himmel über der Erde, sind

Gedanken Gottes über der Menschen Sinn.

Der Morgensonne Thau befeuchtet

Rosen und Lilien, Stepp' und Dornen.

Was nicht geschehn ist (Alles hat seine Zeit),

Wird werden; rüstet Herzen und Geist und Hand!

Die Ernt' ist groß; erhebt das Auge!

Schauet die Fluren, die Euch erwarten

Im goldnen Kleide! Retter und Wächter sein

Der Menschenseelen, lebend und sterbend sich

Der Wahrheit weihen, macht unsterblich;

Denn sie ersteht, die begrabne Wahrheit!


Da ging die Morgenröth' empor; ein Sturm

(Der Herr war nicht im Sturm) erschütterte

Das Felsengrab; die Erde bebt'; es sprang

Des Grabes Siegel, und der Fels entwich.[475]

Ein Feuer rings umstrahlete das Grab

(Der Herr war nicht im Feuer), und ein Hauch

Vom Munde Gottes weht' im sanften Kuß

Dem Todten zu: »Erwache!« Da erstand

Der Erstling Gottes; alle Genien

Der Menschenvölker flossen hin zu ihm,

Dem ersten großen Genius, zu ihm,

Dem Schutz und Retter und Beseliger

Und Fördrer seines Volks Aeonen hin.

Doch er, aus ihrer Mitt' enteilend, sucht

Die Seinen auf und ruft mit Liebelaut:

»Maria!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 474-476.
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