Wandersegen

[254] In das Album der Frau Ida F. 1846


An Gottes Segen

Ist alles gelegen;

Jedoch der Segen eines Poeten

Mag ihn in guten Stunden vertreten.


So ist es doch betrübt zu klagen,

Wenn deutsche Mütter den Rhein hinab,

Hinab und über des Meeres Grab

Die zarten Wickelkindlein tragen,

Nach freier Länder Gestaden hin,

Indes die Männer auf weiten Wegen,

Getrennt, bekümmert zum Ziele fliehn!

Ich streue meinen leichten Segen,

Fast trauernd, in dein Frauenherz:

Fahr glücklich denn rheinniederwärts

Und finde Leute in allen Reichen,

Die gute Milch dem Kindlein reichen,

Und auf den Schiffen, wenn es schreit,

Ein Publikum, das ihm verzeiht!

Des Reimes wegen, als ein Schweizer,

Wünsch ich dir einen nüchternen Heizer,

Der da vorsichtig, sanft und lind[254]

Das Schiff dich tragen läßt mit dem Kind!

Ich wünsche, daß alles, was sehenswert,

Die schönsten Seiten zu dir kehrt,

Vor deinem Fuß frisch Rasengrün,

Dem Auge freundlicher Sterne Glühn,

In deine Hände weißes Brot

Und alle Tag Morgen- und Abendrot!

Indes sei deinem Mann der Wein

Allüberall süß, stark und rein!


Vom Rhein will keinen Wunsch ich sagen,

Er wird gerührt und treu dich tragen;

Jedoch das Meer sei ohne Gefahr!

Und wo ihr hinkommt, frisch und klar,

Von Blumen umgeben, vergnügt und rein

Müssen alle Brunnen und Quellen sein!

Und weil die Guten dieser Erden

Noch eine Weile wandern werden,

So mache die Ferne das Herz euch satt

Mit allem Besten, was sie hat;

Sie fülle freundlich euch die Truh

Und geb euch leichte Sorgen am Tag,

Am Abend Nachtigallenschlag,

Zur Nachtzeit aber die goldene Ruh;

Des Sommers Frucht, des Frühlings Zier,

In England immer vom besten Bier,

Den Fisch im Wasser, den Vogel der Luft –

Nur keinen Boden zu einer Gruft:

Denn in der Heimat sollt ihr sterben

Und euren Kindern die Freiheit vererben!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 254-255.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon