Poetisches Votum

[469] an die verehrte Frau Hofrätin v. Kleyle, über den herzkläglichen Unfall, welcher sich in deroselben berühmten Speisekammer ereignet hat in der Nacht vom 10. auf 11. Oktober, im Jahre diesmal des Unheils 1837, zu Penzing in der Schmiedgasse


Es füllt die Speisekammer

Ein bitterlicher Jammer,

Und wohl mit Fug und wohl mit Recht,

Denn wie die Welt geworden schlecht,

Zeigt sich ein schnöd Exempel

In diesem Magentempel.

Die Mutter steht betroffen

An den beraubten Brettern

Und ruft in Zorneswettern:

»Wer ließ das Fenster offen?«

Wenn sie nicht Christin wäre

Und eingedenk der Lehre:

›Du sollst dem Feind vergeben‹,

Der Eingriff in ihr Leben,

In ihren Speiseständer,

Er könnte sie versuchen,

Den Räuber zu verfluchen,

Den Magentempelschänder.

Sie blickt nach ihren Schätzen,

Und ach! erblickt sie nicht,

Da bleicht ihr Angesicht

Hausfrauliches Entsetzen.

Sie forscht in ihrem Schrecke

Vergebens nach dem Specke,

Er ist bei Nacht verschwunden,

Trotz unseren drei Hunden.

Sie sucht in ihrem Gram

Das Leibgericht der Wiener,

Das auch abhanden kam,[470]

Die braungebacknen Hühner.

Hühnlein sind abgezogen,

Dem Specke nachgeflogen,

Sie sind vorbeigeschwunden

An drei verschlafnen Hunden.

Jetzt faßt ein tödlich Grauen

Die häuslichste der Frauen,

Sie ist ins Herz verletzt,

Der Jammer packt sie jetzt

Mit seiner ganzen Stärke,

Es ist ein Streich zum Weinen:

Geraubt sind auch die feinen

Geburtstagszuckerwerke!

Nun steht sie da ergrimmt,

Ihr Auge glüht und schwimmt

In wirtschaftlichen Tränen,

Unchristlich, doch von Herzen

Wünscht sie drei Tage Schmerzen

Den frechen Diebeszähnen.

Jetzt sammeln sich die Kinder

Und klagen nicht gelinder,

Und aus der bittern Klage

Entspringt die große Frage:

»Hat sich ein Mensch vergessen?

Hat dies ein Tier gefressen?«

Als eurer Zweifel Richter

Laßt gelten einen Dichter:

Was hier dem Dieb gefiel,

Zu vielerlei und viel

Wills meinem Sinne scheinen

Für eines Tieres Fraß;

Drum soll ich lieber meinen,

Daß sich ein Mensch vergaß.

Doch muß ich wieder glauben

Trotz viel und vielerlei,[471]

Bei solchem frechen Rauben

War auch ein Tier dabei.

Wie auch der Fall sich wende,

's ist alles eins am Ende:

In diesem Duftrevier

Hat beides: Mensch und Tier

Zu eurem Herzeleide

Heut nacht sichs lassen schmecken,

Ob in zwei Leibern beide,

Ob sie in einem stecken.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 469-472.
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