Erster Gesang.

Sehnt ihr die Zeit zurück, da noch des Himmels Söhne

Durchwandelten die Welt, wo reich der Glaube sproß;

Die Zeit, da, Jungfrau noch, sich Anadyomene

Aus blonden Locken wand der Mutter bittre Thräne

Und auf den Keim der Welt den Thau der Liebe goß?

Sehnt ihr die Zeit zurück, da noch der Nymphen Chor

Den Reigen sonnbeglänzt durch Wasserblumen schlang

Und jäh den trägen Faun im dichten Uferrohr

Aufschreckte aus dem Schlaf mit neckischem Gesang;

Da noch Narzissens Kuß die Quellen beben machte;

Da aus Mykenäs Thor ein gottgezeugter Held,

Vom blutigen Löwenfell umwallt, der weiten Welt

Nach göttlichem Beschluß gerechten Frieden brachte;

Da noch im hohlen Stamm der Waldgott träumend schlief,

Wenn er nicht schaukelnd saß in grünumlaubter Höh'

Und auf des Wandrers Lied das Echo äffend rief;

Da Alles göttlich war, sogar des Menschen Weh;[17]

Da noch die Welt verehrt, was heutzutag sie schlachtet;

Da man nur mehr geglaubt, je mehr es Götter gab;

Da Alles froh gejauchzt, Prometheus nur geschmachtet,

Dem, wie für Satan auch, der Hochmut grub das Grab?


– Doch da dies alles längst entschwunden ist für immer,

Die Wiege dieser Welt sich wandelte zum Sarg,

Und da des Nordens Sturm des schönen Südens Trümmer

In's düstre Leichentuch des Unterganges barg –


Sehnt ihr die Zeit zurück, da tröstend auferstand

Ein goldnes Säkulum aus Barbarei und Schmach;

Die Zeit, da Lazarus mit neubelebter Hand

Für alle Welt zugleich den Stein des Grabmals brach?

Sehnt ihr die Zeit zurück, da alter Lieder Klang

Auf goldnen Flügeln sich zum lichten Himmel schwang;

Des Herzens Glaube noch, und noch das Werk der Hand

Im jungfräulichen Kleid des frischen Werdens stand;

Da unter Christi Hauch ein neu Geschlecht erwachte;

Da Kirche wie Palast, aus hartem Stein geschlagen,

Zum Himmel sich gestreckt, der schützend sie umdachte,

Und noch auf ihrer Stirn das gleiche Kreuz getragen;

Da Straßburg, Rom, Paris und Köllen an dem Rhein

Anbetend sank auf's Knie im starren Kleid von Stein;

Da wie ein Orgelsang so brausend und so voll

Das Lob der neuen Zeit aus tausend Kehlen schwoll;

Und da, was Märchen nun, noch traute Wahrheit war;

Da ein geschnitztes Kreuz auf heiligem Altar

Dem Sünder Ruhstatt noch in weißen Armen bot –

Da jung das Leben war – und hoffnungsreich der Tod?[18]

Zu jenen zähl' ich nicht, die des Gebetes Drang

Zum düstern Tempel führt auf schlotternd frommen Füßen;

Mit jenen schleich' ich nicht auf den Kalvariengang,

Die, schlagend an die Brust, des Heilands Wunden küssen.

In deinem Tempel, Christ, verweil' ich ungebückt,

Wo murmelnd zum Gesang, der von der Höhe hallt,

Dein treues Volk sich scheu um graue Pfeiler drückt,

So wie das schwanke Schilf im Hauch des Nordwinds wallt.

Der allzu alten Welt bin ich zu spät geboren.

Vom heiligen Worte wird mein Herz nicht mehr gebannt;

Denn mit der Hoffnung ging uns auch die Furcht verloren,

Seit neuer Sterne Glut den Himmel leer gebrannt.

Des Hirnes Wahnwitz schleift nach nebelgrauen Weiten

Auf's blinde Ungefähr die traumerwachte Welt.

Um morsche Trümmer irrt der Geist der alten Zeiten –

Der ewige Wirbel brüllt – dein letzter Engel fällt!

Nur mühsam tragen dich die Nägel Golgatha's;

Dein göttlich Grabmal ward der wilden Mächte Raub:

Dein Ruhm ist todt, o Christ – auf schwarzen Kreuzen fraß

Selbst deinen heiligen Leib die giere Zeit zu Staub.


Zu küssen diesen Staub – verwehr' es nicht, mein Heiland,

Dem glaubensärmsten Sohn der glaubensarmen Welt!

Und laß beweinen mich dies kalte Welteneiland,

Das nur dein Tod belebt, das ohne dich zerfällt!

Wer nun, mein Jesus, wird von neuem es beleben?

Wer wird für uns, wie du, das reinste Herzblut geben?

Wer wird, was du vollbracht, auf's neue nun vollbringen,

Uns Greise, gestern erst geboren, zu verjüngen?[19]

So alt ist unsre Welt, wie welche dich geboren;

Das Gleiche hofft sie wohl, doch hat sie mehr verloren.

Aufs neu liegt Lazarus im weltenweiten Sarg,

Doch bleicher, kälter noch, als er ihn einstens barg.

Wo ist ein Heiland nun, der unser Grabmal sprenge?

Und läßt kein Paulus denn sein Wort in Rom erschallen,

Daß gläubig sich ein Volk an seine Lampen hänge?

Wo sind nun Abendmahl und unterird'sche Hallen?

Und wen geleitet nun der wissende Komet?

Wo sind die Füße denn für Magdalena's Thränen?

Wird nicht durch Wolken bald des Himmels Stimme tönen?

Wer ist es, der aus uns zum Gott für uns ersteht?


Die Welt ist nun so alt, so aller Kraft beraubt;

Verzweifelnd schüttelt jetzt wie damals sie das Haupt,

Als Sankt Johannes ihr erschien im Wüstensand,

Bei dessen heiligem Wort plötzlich den siechen Leib

Erschauern sie gefühlt, gleich wie ein schwangres Weib,

Da keimend sie in sich die junge Welt empfand.


Sie sind zurückgekehrt, Tiber's und Nero's Tage,

Ach! Alles, so wie einst, verwehten ja die Winde!

O rettet! Seht, Saturn griff nach dem letzten Kinde!

Der Menschen Hoffnung ist nun aber satt der Plage

Und auch nicht fähig mehr zu neuer Mutterschaft;

Sind ihr vom Säugen doch die Brüste längst erschlafft.

Quelle:
Alfred de Musset: Rolla. Wien 1883, S. 17-20.
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