Stephanus

[280] Frei, wie ein Engel, stand er da,

Der Mann vor seinen Richtern;

Verborgne Wuth und Rache sah

Aus grimmigen Gesichtern.

Doch Stephanus erzittert nicht

Und schaut mit glühendem Gesicht

Hinauf zu seinem Mittler.


Es sieht sein Sonnenauge weit,

Weit über blauen Höhen

Den Glanz von Gottes Herrlichkeit

Und Jesum Christum stehen.

Entzücken zittert durch die Brust,

Er stammelt, aufgelöst in Lust:

Ich seh' den Himmel offen.


Nur seine Mörder knirschten Wuth

Und blickten ihm Verderben!

Und Stephanus! dein Märt'rerblut

Soll ihre Steine färben.

Jedoch, dein Seufzer steigt hinauf:

Nimm meinen Geist, Herr Jesu, auf!

Dann sinkst du stumm zur Erde.


Und Felsenstücke stürzen schwer,

Zermalmend auf ihn nieder;

Doch seufzt er nicht, nur betet er

Für mörderische Brüder.

Er hebt die morsche Hand und spricht:

Behalte ihre Sünden nicht!

Sinkt nieder und entschlummert.


Erbarmer, auf der finstern Bahn

Des Todes darf ich hoffen,

Daß meine Seele sprechen kann:

Ich seh' den Himmel offen!

Kann ich gleich nicht mit meinem Blut,

So will ich doch mit Christenmuth

Dich in dem Tode preisen.[281]


Doch, Vater, eh' ich sterben muß,

Und kann fast nimmer reden:

So laß mich noch, wie Stephanus,

Für meine Feinde beten.

Sein großer Seufzer flamm' in mir:

Herr Jesu, nimm den Geist zu dir!

Wer kann mich so verdammen?

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 280-282.
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