Neunzehnter Abschnitt.
Die Zeit.

[123] Frage: Es muß Zeit (kāla) sein, weil wechselseitig abhängig erreicht. Durch die Zeit des Vergangenen ist eben zukünftige (und) gegenwärtige Zeit; durch die gegenwärtige Zeit ist vergangene (und) zukünftige Zeit; durch die zukünftige Zeit ist vergangene (und) gegenwärtige Zeit. Oben, mitten, Unten, Eines, Verschiedenes u.dgl. dharmas auch sind durch wechselseitige Abhängigkeit.

Antwort:

Wenn durch die vergangene Zeit das Zukünftige (und) Gegenwärtige ist, so waren das Zukünftige und Gegenwärtige in vergangener Zeit. (XIX. 1.)

Wenn durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit ist, dann würde in der vergangenen Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit sein. Weshalb? Entsprechend (dem), durch welchen Ort ein dharma erreicht wird, würde dieser Ort der dharma sein. Wie durch Licht Helligkeit erreicht wird, (und) entsprechend dem Ort des Lichtes Helligkeit sein würde, so wird durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht. Dann würde in der vergangenen Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit sein. Wenn in der vergangenen Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit ist, dann heißen die drei Zeiten alle vergangene Zeit. Weshalb? Weil zukünftige (und) gegenwärtige Zeit sich in der vergangenen Zeit befinden. Wenn alle Zeiten insgesamt vergangen, dann sind nicht zukünftige (und) gegenwärtige Zeit, da die vergangene Zeit erschöpft ist. Wenn zukünftige (und) gegenwärtige Zeit nicht ist, würde auch vergangene Zeit nicht sein. Weshalb? Weil vergangene Zeit durch zukünftige (und) gegenwärtige Zeit ist, heißt sie vergangene Zeit. Wie durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht wird, so auch würde durch zukünftige (und) gegenwärtige Zeit die vergangene Zeit erreicht. Weil jetzt zukünftige (und) gegenwärtige Zeit nicht[124] ist, würde auch vergangene Zeit nicht sein. Deshalb ist früher gelehrt: durch vergangene Zeit wird zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht. Diese Sache ist nicht richtig. Wenn man sagt: in der vergangenen Zeit ist nicht zukünftige (und) gegenwärtige Zeit, aber durch die vergangene Zeit wird zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht, so ist diese Sache nicht richtig. Weshalb?

Wenn in der vergangenen Zeit nicht zukünftige (und) gegenwärtige Zeit ist, wie sind zukünftige (und) gegenwärtige Zeit durch die vergangene? (XIX. 2.)

Wenn zukünftige (und) gegenwärtige Zeit nicht in der vergangenen Zeit befindlich sind, wie erreicht man dann durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit? Weshalb? Wenn die drei Zeiten jede besonders vereigenschaftet wären, so wären sie nicht wechselseitig abhängig erreicht. Wie Krug, Tuch u.dgl. Dinge jedes selbst besonders erreicht ist, nicht wechselseitig abhängig. Aber wenn nicht durch vergangene Zeit, dann werden zukünftige (und) gegenwärtige Zeit nicht erreicht. Nicht durch gegenwärtige Zeit: dann werden vergangene (und) zukünftige Zeit nicht erreicht. Nicht durch zukünftige Zeit: dann werden vergangene (und) gegenwärtige Zeit nicht erreicht. Ihr lehrtet früher: obwohl in vergangener Zeit nicht zukünftige (und) gegenwärtige Zeit ist, so wird doch durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht. Diese Sache ist nicht richtig.

Frage: Wenn nicht durch vergangene Zeit zukünftige (und) gegenwärtige Zeit erreicht wird, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

(Wenn) nicht durch vergangene Zeit, dann ist nicht zukünftige Zeit; auch ist nicht gegenwärtige Zeit; deshalb sind die zwei Zeiten nicht. (XIX. 3.)

(Wenn) nicht durch vergangene Zeit, dann wird zukünftige (und) gegenwärtige Zeit nicht erreicht Weshalb? Wenn nicht durch vergangene Zeit gegenwärtige Zeit ist, an welchem Orte ist dann gegenwärtige Zeit? Zukünftige Zeit auch so: an welchem Orte ist zukünftige Zeit? Deshalb, (wenn) nicht durch vergangene Zeit, dann ist nicht zukünftige (und) gegenwärtige Zeit. So ist wegen wechselseitiger Abhängigkeit tatsächlich die Zeit nicht.

[125] Weil die Sache so ist, erkennt man dann die übrigen zwei Zeiten, oben, mitten, unten, Eines, Verschiedenes: derartige dharmas sind ausnahmslos nicht. (XIX. 4.)

Weil so die Sache ist, wird man erkennen: die übrigen, (nämlich) Zukunft (und) Gegenwart, können auch nicht sein. Ferner oben, mitten, unten, Eines, Verschiedenes u.dgl. dharmas auch sind ausnahmslos nicht.1 Wie abhängig von oben mitten (und) unten ist; (wenn) ohne oben, dann ist nicht mitten und unten. Wenn ohne oben mitten (und) unten ist, dann wäre nicht wechselseitige Abhängigkeit. Weil abhängig von Einem, ist Verschiedenes; weil abhängig von Verschiedenem, ist Eines. Wenn Eines tatsächlich (wahrhaftig) ist, so würde es nicht abhängig von Verschiedenem sein. Wenn das Verschiedene tatsächlich ist, so würde es doch nicht abhängig von Einem sein. Solche dharmas auch würden so widerlegt.

Frage: Wie man wegen des Unterschiedes von Jahr, Monat, Tag, kurze Zeit (Sekunde) usw. erkennt, ist Zeit.

Antwort:

Zeitdauer ist nicht erreichbar, Zeitverlauf auch kann nicht erreicht werden. Wenn Zeit nicht erreichbar ist, wie lehrt man Zeit-Merkmale (lakṣaṇa)? (XIX. 5.)

Weil durch die Dinge die Zeit ist, wie ist ohne Dinge die Zeit? Dinge schon sind nicht seiend, um so mehr wird (nicht) Zeit sein. (XIX. 6.)

Die Zeit, wenn nicht stehend, wäre nicht zu erreichen; stehende Zeit ist aber nicht. Wenn Zeit nicht erreichbar ist, wie lehrt man Zeit-Merkmale (lakṣaṇa)? Wenn nicht Zeit-lakṣaṇas sind, dann ist nicht Zeit. Wegen des Entstehens der Dinge heißt es eben »Zeit«. Wenn getrennt von den Dingen, dann ist nicht Zeit. Oben sind durch verschiedene Gründe die Dinge widerlegt – da sie nicht sind2, wie ist Zeit?

1

TE.: »würden ausnahmslos nicht sein«.

2

TE.: »da die Dinge nicht sind«.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 123-126.
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